von Maximillian Braun - 0 Kommentare

Ein dunkles Tal, ein heller Plan

Ein Seitental im Piemont, nördlich von Turin, hat in den vergangenen Monaten Gesichter und Sprachen bekommen, die hier niemand erwartet hat. Auf Wanderwegen hört man Englisch mit israelischem Akzent, in Ferienhäuschen werden Shabbat-Kerzen angezündet. Wer bleibt, beschreibt es nüchtern: weniger Lärm, weniger Sirenen, weniger Angst. Während anderswo die Hochsaison endet, beginnt in Varallo für einige eine Atempause.

Die Entscheidung fällt oft nach schlaflosen Nächten. Menschen aus dem Norden Israels berichten von ständigen Alarmen, vom Lauf in den Schutzraum, vom Blick auf die Kinder, die sich wegducken, bevor sie fragen. Viele sagen, sie hätten die politischen Auseinandersetzungen in der Heimat lange ausgehalten, aber nicht mehr den Mix aus Krieg, Unsicherheit und einer Regierung, die Institutionen umformt. Eine Frau wie Moriah Neval trägt diese Zerrissenheit sichtbar mit sich: Zwischen Liebe zur Heimat und dem Bedürfnis, wieder durchzuatmen. So entsteht eine Bewegung, die keine Banner trägt und kaum Parolen kennt – nur Koffer, Mietverträge auf Zeit und ein paar Telefonnummern.

Die Anreise ist nicht immer sanft. Der Piemont wurde zuletzt von heftigen Unwettern getroffen, Straßen wurden unterbrochen, Umwege zwangen Reisende durch halbe Provinzen. Für viele, die gerade erst den Raketen entkommen sind, wirkt selbst das wie ein kleiner Preis: Regen, der die Wege kappt, ist berechenbarer als eine Sirene, die mitten in der Nacht heult.

Warum dieser Ort? Weil er entschleunigt. Weil hier die Mieten noch unter dem Niveau der Großstädte liegen, weil es Bahnanschlüsse und Flughäfen in Reichweite gibt, aber auch genug Abgeschiedenheit, um nicht ständig Nachrichten zu doomscrollen. Und weil es in Ferienorten eine Infrastruktur gibt, die kurzfristig Platz schafft: leere Chalets im Herbst, Pensionen, die nicht ausgebucht sind, Gastgeber, die unkompliziert vermieten.

Zwischen Provisorium und Neubeginn

All das ist oft nur auf Zeit. Israelis können sich bis zu 90 Tagen visumfrei im Schengenraum aufhalten. Wer länger bleiben will, braucht einen Aufenthaltsgrund: einen Arbeitsvertrag, ein Studium, Familiennachzug – oder als Selbstständige die passenden Nachweise. Italien hat zudem ein Visum für digitale Nomaden eingeführt, das für einige infrage kommt. Viele versuchen zunächst drei Monate als Testlauf und entscheiden dann, ob sie zurückkehren, weiterziehen – oder den Papierkrieg beginnen.

Im Alltag zählt Pragmatismus. Familien teilen sich Kinderbetreuung und Online-Schulzeiten. Berufstätige schalten sich aus Ferienwohnungen in Meetings. In WhatsApp- und Telegram-Gruppen kursieren Hinweise: welcher Supermarkt welches Brot hat, wo man eine ruhige Ecke zum Arbeiten findet, welcher Arzt Englisch spricht. Freitags verabredet man sich in kleinen Runden, mal improvisiert, mal mit Tradition. Joins und Leaves passieren leise – die Menschen kommen und gehen im Rhythmus der Ereignisse zuhause.

Die lokale Reaktion ist gemischt, aber meistens neugierig. Vermieter freuen sich über Nebensaison-Gäste, Cafés über Stammkundschaft mit Laptops und Kinderwagen. Manche fragen zurückhaltend nach der Lage in Israel, andere vermeiden das Thema aus Respekt. Sicherheitsbedenken sind da, aber sie sind in diesem Tal auf Alltagsniveau: Wertsachen nicht im Auto lassen, bei Starkregen den Fluss im Blick behalten. Die politische Großwetterlage bleibt draußen – und ist doch ständig mit im Raum.

Der Hintergrund, der all das antreibt, ist klar: ein andauernder Krieg, eine gespannte Nordgrenze, Zehntausende Evakuierte, Reservisten im Dauereinsatz. Dazu eine innenpolitische Spaltung, die seit den Justizreform-Plänen nicht mehr abreißt. Viele, die jetzt hier sind, würden sich nicht als Auswanderer bezeichnen. Es ist eher ein Sicherheitsabstand – körperlich und mental. Wer Kinder hat, nennt als Grund fast immer denselben: Schlaf ohne Sirene.

Geld spielt eine Rolle, aber nicht die einzige. Tel Aviv ist teuer, ja. Doch wer hierher kommt, bezahlt vor allem für Zeit: Zeit ohne Bunker, Zeit zum Nachdenken. Ein Monat in Varallo kostet weniger als ein Monat in einer israelischen Küstenstadt – und gibt dafür ein Gefühl zurück, das manche verloren glaubten: die Kontrolle über den eigenen Tag. Selbst Unwetter, die Straßen wegspülen, wirken dagegen wie Natur, die man akzeptieren kann, statt Bedrohung, die man kaum beeinflussen kann.

Natürlich bleibt die Frage: Wie lange hält das? Manche warten auf eine politische Wende, andere auf einen Waffenstillstand. Wieder andere prüfen, ob Italien mehr sein kann als ein Zwischenstopp. Die Bürokratie ist kein kleiner Gegner, die Sprachbarriere auch nicht. Wer bleibt, wird früher oder später Deutsch, Englisch oder Hebräisch gegen Italienisch tauschen müssen – beim Arzt, auf dem Amt, in der Schule. Ein paar Hebräisch-Wörter hört man inzwischen auch bei Bäckern, die lernen, was Challa ist.

Dieses Tal steht nicht allein. Ähnliche Bewegungen gibt es Richtung Portugal, Zypern, Griechenland. Doch der piemontesische Rückzug erzählt etwas Eigenes: Er ist leise, wenig touristisch, mehr Alltag als Auswanderer-Idylle. Die Wege sind steil, der Himmel oft tief, die Häuser alt – und genau das macht den Ort für viele glaubwürdig. Wer Ruhe sucht, traut Gegenden, die nicht auf Effekt gebaut sind.

Am Ende bleibt ein nüchterner Befund: Die Menschen hier folgen keiner großen Idee, sondern einer einfachen Logik – sich schützen, solange es nötig ist. Für manche wird es der Auftakt zu einem neuen Leben, für andere ein Kapitel, das man später als Pause beschreibt. Und mitten darin schiebt sich eine Erkenntnis nach vorne: Migration beginnt selten mit dem Wort „für immer“, sondern mit einem Koffer und dem Wunsch nach einer Nacht, in der niemand aufschreckt. Für den Moment sind Israelis in Italien ein Bild dafür.